Tatarstan – wohlhabend, mächtig und ziemlich autonom | Find your Future

Tatarstan – wohlhabend, mächtig und ziemlich autonom

Die WorldSkills 2019 finden in der Republik Tatarstan statt. Bei uns weitgehend unbekannt, nimmt die Republik innerhalb Russlands eine bedeutende Stellung ein. Sie ist die zweitwichtigste Wirtschaftsregion Russlands und setzt mit verschiedenen Sonderwirtschaftszonen zum Sprung in die Zukunft an. Für Schweizer MEM-Unternehmen bietet dies Potenzial.

Wer in Kasan, der Hauptstadt Tatarstans, unterwegs ist, merkt rasch: Die Stadt ist wohlhabend. Die Unesco-Kulturgüter im Kreml der Stadt sind aufwändig renoviert, die Strassen sind blitzblank sauber, eine Fussgängerzone lädt zum Flanieren ein. Kasan gilt als lebenswerteste Stadt Russland. Doch woher stammt der relative Reichtum?

Die Region Tatarstan verdient den grössten Teil ihres Wohlstandes mit der Förderung und Verarbeitung von Öl sowie einer beachtlichen Produktion in der Maschinenindustrie. Die grossen Öl- und Gasvorkommen Russland befinden sich zwar weiter nördlich in Sibirien, als Knotenpunkt zwischen Nord und Süd sowie Ost und West konnte sich in Tatarstan neben der eigenen Rohstoffförderung jedoch eine relativ breite verarbeitende Industrie etablieren.

Ein Grossteil der russischen Kunststoff- und Gummiproduktion hat sich in Tatarstan niedergelassen. Aber auch in der Produktion von Lastwagen und Flugzeugen, in der Pharmaindustrie und der Medizintechnik spielt die Region eine bedeutende Rolle. Für Russland untypisch ist der hohe Anteil an KMU. Neben rund 120 Grossfirmen zählt die Region über 160'000 Klein- und Mittelbetriebe.

Die Anteile des 1. und 2. Wirtschaftssektors

Grafik_Wirtschaft.jpgQuelle: Made in Tatarstan

Die Schweiz und Tatarstan
Die Exporte der Schweiz nach Tatarstan befinden sich noch auf einem relativ tiefen Niveau. Im Jahr 2017 betrugen sie 86 Mio. US-Dollar, im vergangenen Jahr 112 Mio. US-Dollar. Zum Vergleich: Die Gesamtexporte der Schweiz nach Russland beliefen sich im 2018 auf 2,5 Mrd USD. Sie gehört zudem zu den zehn grössten Investoren in Russland.

Im Sommer 2019 reiste eine Wirtschaftsdelegation unter der Leitung der Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch nach Moskau und Kasan. Neben einem Treffen mit dem Präsidenten der Republik Tatarstan Rustam Minnykhanov standen konkrete Möglichkeiten zur Zusammenarbeit und für Investitionen – etwa in der Produktion von Maschinen, Lebensmitteln oder in der  Landwirtschaft – auf der Agenda.

Den Markt im Auge behalten

Gegenwärtig macht Schweizer Firmen vor allem die Lokalisierungspolitik Russlands zu schaffen, die nach Beginn der westlichen Sanktionen eingeführt wurde. Russische Firmen erhalten oft den Vorzug bei öffentlichen Ausschreibungen und der Re-Export von Produkten gestaltet sich schwierig. Aus Sicht von Swissmem ist derzeit Geduld gefragt. Russland macht Fortschritt im Abbau von Bürokratie, doch das komplexe und sich rasch ändernde regulatorische Umfeld verursacht immer wieder Unsicherheit.

Der Geschäftserwartungsindex der Association of European Businesses liegt seit 2017 für Russland wieder im positiven Bereich. Das Land – und mit ihm die Region Tatarstan – sollte für Geschäftsmöglichkeiten daher im Auge behalten werden. Einzelne Schweizer Unternehmen, wie zum Beispiel die im Bereich Beschichtungen tätige Firma Oerlikon, planen zudem Investitionen, um die Firmen vor Ort beliefern zu können.

Russland4.jpgQuelle: Economiesuisse. Breakfast Briefing» zwischen Wirtschaftsvertretern und der Staatssekretärin im Swissôtel in Moskau im Vorfeld der Ministertreffen.

Schritt in die Zukunft
An der Eröffnungsfeier der WorldSkills Kazan war deutlich erkennbar, dass sich das Land vom Rohstoffsektor zunehmend lösen und neue industrielle Wirtschaftsbereiche aufbauen möchte. Auf der grossen Bühne porträtiert wurden junge Unternehmer und Wissenschafter, die in Bereichen der Robotik und Medizintechnik tätig sind.
Sie haben alle ihre Firmen in spezifischen Wirtschaftssonderzonen aufgebaut. Diese sind in den vergangenen Jahren systematisch konzipiert worden und sollen in Zukunft weiter ausgebaut werden. Der grösste und erste Cluster Russland fokussiert auf die Maschinenindustrie und ist im Osten der Republik angesiedelt (Naberezhnye Chelny).

Cluster.jpg

Ein modernes Silicon Valley
Eine Satellitenstadt Kasans mit Fokus auf die IT-Industrie ist Innopolis. Die Sonderwirtschaftszone gilt auch als «Russlands Silicon Valley». In Innopolis befindet sich die erste reine IT-Universität, die sich auf Themen wie Künstliche Intelligenz, Robotik und Cyber Security spezialisiert. Über 11'000 Studenten haben sich im 2018 für die Elite-Uni beworben, nur die wenigsten wurden akzeptiert. Aktuell zählt die Uni etwas mehr als 250 Studenten. Die internationale Vernetzung wird hochgeschrieben. Ein Austausch besteht auch mit dem CERN in Genf sowie der ETH Zürich.

Im Jahr 2035 soll die Stadt 155'000 Einwohner zählen, wovon rund die Hälfte hochqualifizierte Spezialisten sein sollen. Den Wissenschaftern und Tüftlern soll einst ein Umfeld geboten, das Studium, Arbeit und Freizeit in unmittelbarer Nachbarschaft ermöglicht. Schon jetzt können auf dem Campus-artigen Gelände selbstfahrende Taxis bestellt werden. Innopolis stellt in diesem Sinne eine neue Version von Akademgorodok. Das akademische Städtchen in der Nähe von Nowosibirsk – auch Silikon Taiga genannt – war einst ein Zentrum der IT- und Nuklearforschung in Russland, hat nach dem Fall der Mauer aber an Bedeutung verloren. 

Akademischer Tradition und kultureller Reichtum
Der stärkere Fokus auf Wissenschaft und Innovation kann durchaus mit der Tradition verbunden werden. Kasan verfügt über bedeutende Universitäten des Landes, Lew Tolstoi und Lenin waren einst hier eingeschrieben. Neben einer kulturellen Unabhänigkeit strebte die Region auch politisch immer schon eine hohe Autonomie an. Nach dem Zerfall der Sowjetunion verkündete Tatarstan im Jahr 1990 gar seine Unabhängigkeit, unterschrieb aber vier Jahre später einen Föderationsvertrag mit Russland - so wie 45 weitere Regionen des Landes. Kasan erkämpfte sich in den Verhandlungen mit Moskau Sonderrechte, die keine andere Region erhielt.

Ausgelaufener Vertrag
In den Folgejahren hatte Tatarstan weitreichende Selbstverwaltungsrechte im Steuer-, Sicherheits- und Justizwesen. Mit Rustam Minnichanow hat die Republik auch einen eigenen Präsidenten, der wie das Oberhaupt eines unabhängigen Staates agiert. Er ernennt etwa Minister und vertritt Tatarstan auf Auslandsreisen.

Nach dem Amtsantritt von Wladimir Putin im Jahr 2000 passte Moskau seine Politik gegenüber den autonomen Regionen an, Sondervereinbarungen wurden keine mehr geschlossen. 2007 wurde der Sondervertrag zwischen Russland und Tatarstan zwar um zehn Jahre verlängert, jedoch mit erheblichen Einschnitten bei den Privilegien der Republik. Im Juli 2017 endete auch die Laufzeit dieser Vereinbarung. Trotz mehrfacher Aufforderungen Tatarstans zu einer weiteren Verlängerung ließ der Kreml ihn nahezu kommentarlos auslaufen.
Kasan.jpgZwischen Ost und West: Tatarstan ist ein wichtiges Wirtschaftszentrum Russland

Tatarstan ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer Teil Russlands und nirgendwo wird das augenfälliger, als im Zentrum Kasans. Die Stadt liegt 820 Kilometer östlich von Moskau an der Wolga und ist ein Schmelztiegel der Kulturen. Etwas mehr als die Hälfte der 3,8 Milllionen Bewohner der Region sind tatarische Muslime. Seitdem die Truppen des russischen Zaren Iwan des Schrecklichen das Gebiet 1552 erobert haben, genießen sie eine weitgehende Gleichbehandlung mit orthodoxen Russen. Über 100 unterschiedliche Nationalitäten leben in der Stadt im Herzen Russland. 

Kazan Kremlin at night.jpg
Tags: WorldSkills

Kommentiere diesen Artikel

Ähnliche Blog-Artikel